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Tunesien - sieben Jahre nach dem Sturz von Ben Ali

Vor siebenlahren fegte eine intifada der Volksmassen die Clique von Ben Ali hinweg und weckte zahlreiche Hoffnungen unter ihnen. Allerdings konnte sich der Anlauf nicht weiter entfalten und die Revolte mündete nicht in eine Revolution. Warum ? Und wie ist die Lage heute ? Partisan Magazine hat sich mit der OTC, einer Jungen maoistischen Organisation, unterhalten, die ein intéressantes Licht auf die Geschehnisse wirft und klar die hoffnungsvollen Perspektiven für die Zukunft aufzeigt.
Dieses Interview wurde im November 2017 geführt.

Konnt Ihr uns Eure Organisation OTC vorstellen ?

OTC ist eine marxistisch-leninistisch-maoistische Kommunistische Organisation, die am 16. Dezember 2013 gegründet wurde und am 6.Februar 2014 anlässlich der Gedenkfeiern zum Jahrestag der Ermordung des Märtyrers Chokri Belaid [1] an die Offentlichkeit trat. Bei der Gründungskonferenz 2013 setzten sich alle anwesenden Genossen (aus verschiedenen organisatorischen Strömungen kommend) als Hauptaufgabe die Gründung einer neuen Kommunistischen Partei. Diese sollte, unseren Vorstellungen nach, in scharfen Volkskampfen gegen die herrschenden Klassen geschmiedet werden - nicht wollten wir diese Partei im Stillen aufbauen, wie es andere Gruppen vorschlagen, die sich als maoistisch erklären.

Zugleich verlangt der Parteiaufbau von uns eine Vertiefung der theoretischen und ideologischen Kenntnisse, Erneuerung und revolutionare Kreativität in Fragen der Taktik und im politischen Auftreten. Und das unter Berücksichtigung der Schwächung der kommunistischen Bewegung im Weltmaβ-stab wie auch im arabischen Raum. Hinzugefügt sei der Hinweis auf die Abweichungen der rechten Revisionisten, die in ihrer dogmatischen Sichtweise vorgeben, dass eine fertige marxistische Theorie bestünde und nur mehr die Soldaten fehlten, um die Direktiven des obersten Führers auszuführen.

Derzeit, nach dreieinhalb Jahren revolutionärer Kampfe an der Seite der Volksmassen an der sozialen und wirtschaftlichen Front und einer beträchtlichen ideologischen und politischen Arbeit, hat unser erster Kongress, der im April 2017 abgehalten wurde, als Ziel festgelegt, einen Appell an alle Kommunisten, Organisationen und Individuen zu richten, den Prozess der Gründung der neuen Kommunistischen Partei zum Abschluss zu bringen. Dieser Appell wurde durch den Kongress am Ende einer selbstkritischen Analyse der Entwicklung unserer Organisation und einer Analyse der Entwicklung des Klassenkampfes in Tunesien und im arabischen Raum in der Ära der arabischen Revolten beschlossen. Der Appell ist motiviert durch unseren Willen, unsere Fehler zu korrigieren und auf unseren Stärken aufzubauen, die unserer Organisation erlaubt haben, Schritt für Schritt Einfluss im Lager der Revolutionäre und der Volksmassen zu gewinnen und zu vertiefen.

Wie war die Situation unmittelbar nach dem Sturz Ben Ali’s ? War die Situation tatsächlich revolutionär, d.h. hätten die Volksmassen die Macht ergreifen können ?

Die Ereignisse zwischen 17. Dezember 2010 und 14. Jänner 2011 waren wie eine Art Einstudieren für eine revolutionäre Erhebung, aber was dabei fehlte, war der Dirigent, d.h. eine in den Volksmassen verwurzelte Kommunistische Partei. Den Volksmassen ist es nach fast einem Monat scharfer Kämpfe gelungen, das Regime von Ben Ali zu destabilisieren. Trotz der politischen und militärischen Unterstützung durch die imperialistischen Mächte (Waffen, Tränengas, Schutzausrüstung für die Polizei...) konnte das Regime diese revolutionäre Woge nicht unterdrücken. Was den Diktator am 14. Jänner 2011 zur Flucht nach Saudiarabien zwang. Die Volksmassen, unterstützt von den fortschrittlichen politischen Parteien und den nicht-korrumpierten Gewerkschaften, setzten ihren Ansturm gegen das, was vom Regime übrig war, fort, um es weiter zu schwachen. Dazu organisierten sie sich in den „Komitees zur Verteidigung der Wohnviertel“ und organisierten weiterhin tägliche Demonstrationen. Die Massen besetzten Stadtverwaltungen, die polizeilichen Unterdrückungskräfte hatten aus Angst ihre Basen verlassen. Nur die Militärs hielten strategische Punkte unter Kontrolle. Es handelte sich um wirklich revolutionäre Ereignisse, mit einem hohen Grad an Kampfentschlossenheit und genialen neuen taktischen Vorgangsweisen der Massen mit Blickrichtung auf die Auflösung der Partei von Ben Ali und den Sturz der Regierung von Mohamed Ghannouchi (Premierminister unter Ben Ali), die dem Ben Ali Regime nachgefolgt war. Dieses Ziel wurde dank der berühmten Besetzung des „Platzes der Regierung“/Al-Kasba erreicht. Das war ein wirklicher Wendepunkt im Widerstand gegen die Überreste des Ben Ali Regimes.

In der Tat waren die Kämpfer der Gegenden, wo es die scharfstem Konfrontationen mit der Polizei gab und wo die Mehrzahl der Märtyrer fielen (insbesondere Gasserine und Sidi-Bouzid), in die Hauptstadt marschiert und hatten dort ihre Zelte vor dem Regierungspalast auf der Al-Kasba aufgestellt, genau am symbolischen Ort der Staatsmacht. Im Zuge dieser Besetzung erlebte man eine wahre Vereinigung zwischen den Revolten der verschiedenen Regionen, die sich erstmals, aber vereinigt durch das Opfer der Märtyrer, begegneten und den Kämpfern der fortschrittlichen und kommunistischen Kräfte, die dort präsent waren und Einfluss gewinnen konnten. In den folgenden Tagen konnten die Kampfer ihr „Recht“ geltend machen und das Regime zwingen, teilweise den Erwartungen des Volkes nachzugeben. In der Suche nach einem Ausweg schlug das Regime eine teilweise Umbildung der Regierung vor, durch welche Vertreter der politischen Parteien der früheren Opposition und Mitglieder der Gewerkschaftsbürokratie einbezogen werden sollten. Dies hat zu Beginn die Bewegung gespalten und ihre Forderungen wurden durch die einflussreichsten Kräfte abgelehnt. Deshalb konnte das Regime, unterstützt von den neuen Regierungsmitgliedern, mit Repression und der Räumung des Platzes und der Auflösung der Besetzung reagieren. Einige Tage später wurde eine zweite Besetzung organisiert. Obwohl es gelang, Ghanoucchi abzusetzen und das Prinzip der Wahl einer Verfassungsgebenden Versammlung durchzusetzen, musste sie sich mit einem Kuhhandel zwischen der Gewerkschaftsbürokratie und gewissen Parteien, einschlieBlich linker, und neuer, „flexiblerer“ Vertreter des Regimes begnügen (Béji Cäid Essebsi wurde der Mann der Bourgeoisie, um die Übergangsperiode bis zu den Wahlen sicherzustellen). Das Ende der zweiten Besetzung markierte offiziell den Beginn des Sieges der Konterrevolution, der sich allmählich immer deutlicher zeigte.

In den Tagen nach der Flucht Ben Ali’s bestand eine revolutionäre Situation, aber die Volksmassen konnten die Macht nicht ergreifen mangels einer Partei der Revolution und wegen des Verrats der Gewerkschaftsbürokraten und der Oppositionsparteien. Die links orientierten Parteien waren sehr schwach und verfolgten unterschiedliche, manchmal gegensàtzliche Taktiken. Ihre hauptsàchliche Gemeinsamkeit bestand in ihrer „Mittelposition“ und ihrem Schwanken zwischen den Forderungen des Volkes, den Positionen der Gewerkschaftsbürokratie und denen anderer Oppositionsparteien. Das führte dazu, dass ihnen die Initiative entglitt und sie in eine Lage kamen, den Volksmassen nachzutraben, statt sie zu führen.

Unter diesen Umständen war unsere Einschätzung, dass wir es mit einer demokratischen Volksrevolte zu tun hatten und nicht mit einer Revolution und dass die richtige Taktik darin bestünde, die Organisation der Massen voranzutreiben, die Errungenschaften der Revolte von Dezember 2010-Jänner 2011 zu verteidigen und sich auf die nächsten Revolten vorzubereiten. Die „Linke“ jedoch, insbesondere die PCOT (damals die wichtigste linke Kraft), glaubte, man stünde vor einer Revolution und die Taktik, diese Option zu verteidigen, bestünde darin, die Verfassungsgebende Versammlung zu verteidigen.

Damals war die Losung der Organisationen der Volksfront (wie z.B. die PCOT) die Forderung nach einer Verfassungsgebenden Versammlung. Was denkt Ihr über diese Losung ?

Wie schon erwähnt, haben die Taktiken der tunesischen „Linken“ (wir machen einen Unterschied zwischen der „Linken“ und den Kommunisten) den Kampf geschwächt und seine Radikalisierung in fataler Weise beeinträchtigt. Nicht nur die Taktik der Verfassungsgebenden Versammlung hat in diese Richtung gewirkt, sondern auch die Bildung des „Conseil National de Protection de la Révolution“ (CNPR - Nationalrat zum Schutz der Revolution) unter Einschluss reaktionärer Kräfte wie den Moslembrüdern der Ennahdha und den liberalen Parteien wie dem „Parti Démocrate Progressiste“ (Demokratische Fortschrittspartei) von Ahmed Néjib Chebbi, dem „Congrès pour la République“ (Kongress für die Republik) von Moncef Marzouki (späterer Präsident) und der Bürokratie der Gewerkschaft UGTT „Union Générale Tunisienne du Travail“. Diese Taktik ist in Einklang mit der Plattform der „Front des 18. Oktober“ (in der tunesischen Linken sehr umstritten und von den Kommunisten als rechte revisionistische Abweichung charakterisiert), die 2005 zwischen der PCOT und diesen Parteien gebildet wurde, mit dem Ziel, so individuelle und kollektive Freiheiten zu erlangen.

Die Losung der Verfassunggebenden Versammlung wurde von der CNPR beschlossen und die zweite Besetzung der Kasba (die ursprünglich darauf zielte, die zweite Regierung Ghannouchi zu stürzen und die sozialen Forderungen der revoltierenden Massen durchzusetzen) wurde dazu benutzt, auf das Regime Druck auszuüben, sie zu akzeptieren. Die PCOT ging davon aus, dass die Lage nach dem Sturz Ben Ali’s eine starke Ähniichkeit mit der Lage in Russland nach der Februarrevoiution 1917 hätte. Abgesehen davon, dass diese Vorsteiiung nur eine mechanistische Projektion war, hatte sie mangeis einer wirkiichen ausreichend starken revolutionären Kraft im Land keineriei Aussicht auf Erfoig (seibst wenn sie ein Szenario wie die Oktoberrevoiution anvisiert hatten, waren sie gescheitert).

Dies brachte die PCOT dazu, eher auf ihre (alte) Front des 18. Oktober zu setzen. Das, unter anderem, deshalb, weil es unmöglich schien, in der Verfassunggebenden Versammiung (Oktober 2011) eine Mehrheit zu erreichen - einerseits wegen der ungieichen Kräfteverhaitnisse (Ennahdha war die bei weitem dominierende Kraft im Land und genoss beträchtliche imperialistische Unterstützung), andererseits wegen der Spaitung der „Linke“ (die „Front des 14. Jänner“, die mehrere Gruppierungen der tunesischen Linken umfasste, war über die Diskussionen über die Kandidatenlisten implodiert).

Die irrige Vorsteiiung dieser „Linken“ hat ihre Wurzein in ihrer Faszination für die bürgerliche Demokratie. Das führte sie dahin, den Voiksmassen einzureden, dass 2011 eine Revolution stattgefunden hatte und es in der nachsten Etappe darum ginge, die Wahien zur Verfassunggebenden Versammiung zu gewinnen. Das hat die Massen dahin gedrängt, den Kampf auf den Strassen und öffentlichen Plätzen aufzugeben.

Unsere Organisation ist erst 2013 gegründet worden, aber die Position der Mehrzahl unserer Mitglieder (obwohl bis dahin in verschiedenen Organisationen oder unabhängig) bestand (bereits vorher) darin, die Wahien zu boykottieren, wenn es nicht gelänge, die radikaie Linke zu vereinigen (was nicht geiang). Vor allem aber betrachteten wir die Wahien als erste Etappe des sogenannten „Prozesses des demokratischen Übergangs“, den die Imperialisten dem Land aufzwangen und der durch die Regierung Beji Cäis Essebsi im Marz 2011 impiementiert wurde. Ferner entsprachen die Wahlen nicht im mindesten den Kriterien von Transparenz und Unabhängigkeit, die von den Liberaien angeblich verteidigt wurden (zwielichtige Finanzierungen, kein unabhängiges Justizwesen, zurecht gebogene Medien etc.).

Es scheint, dass es der tunesischen Bourgeoisie gelungen ist, ihre politische Herrschaft seit 2011 wieder zu festigen. Wie haben sich die herrschenden Klassen seither neu formiert ?

Die herrschenden Kiassen in Tunesien bestehen nicht nur aus einer kapitalistischen Bourgeoisie wie in den (entwickeiten) kapitalistischen Ländern. Es handeit sich vielmehr um eine Klassenallianz zwischen der Kompradorenbourgeoisie, der bürokratischen Bourgeoisie und den Groβgrundbesitzern. Diese Aiiianz braucht die imperialistische Unterstützung, um dem Land ihre Autorität und Herrschaft aufzuzwingen. Diese organische Verbindung ist für beide Seiten wichtig, denn der Imperialismus braucht seine lokalen Agenten, deren Interessen mit den seinen verbunden sind, um seine Neokolonien weiter kontrollieren zu konnen.

Deshalb erforderte die Niederschiagung der Revolte im Dezember/Jänner 2011 die Koordination zwischen den reaktionären lokalen Kräften und den Imperialisten, ungeachtet einiger zweitrangiger taktischer Differenzen zwischen den verschiedenen imperialistischen Mächten. Die Liquidierung des Prozesses der arabischen Erhebung war unumgänglich und nahm je nach den Interessen, der in Konflikt stehenden Kräfte, verschiedene Formen an.

Die Volkserhebungen in Libyen, Syrien und Jemen führten rasch zur Entwickiung reaktionarer Bürgerkriege, die die Länder ruinierten und die Vlöker ins Elend stürzten und zu Flüchtlingen machten. In Ägypten und Bahrain wurde der Weg der Repression bevorzugt. In ersterem Fall war es notwendig, die Repression, beginnend mit den Moslembrüdern, zu verschärfen und sie dann durch eine stabilere Militärdiktatur zu ersetzen. Im zweiten Fall war die Monarchie, unterstützt von den Imperialisten und dem reaktionären saudischen Nachbarn, nicht einmal gezwungen, ihre brutale und blindwütige Repression zu rechtfertigen.

Was Tunesien (und teilweise auch Marokko) betrifft, waren die wichtigsten Instrumente, um die Radikalisierung der Revolten 2011 zu verhindern, die Lügen über den „demokratischen Übergang“, zusammen mit der Herstellung der vollen imperialistischen Kontrolle der tunesischen Wirtschaft mittels der Diktate des Internationalen Währungsfonds und anderer internationaler Finanzinstitutionen. Um dabei Erfolg zu haben, war es notwendig, die Massen zu betäuben und sie in zweitrangige Schlachten und Konflikte über Randprobleme zu verwickeln, die sie terrorisierten und dazu brachten, die Konfrontation mit dem Regime aufzugeben und sich mit vollendeten Tatsachen abzufinden. Mehrere Akteure haben dazu beigetragen, jeder entsprechend seinen Klasseninteressen und positionen, aber die wichtigsten waren die Ennahdha, dann die Partei Nidaa Tounes plus die Gewerkschaftsbürokratie.

In demselben Zusammenhang dürfen wir nicht das wachsende Phänomen des Terrorismus vergessen, der eine bedeutende Rolle in der Innenpolitik spielte (vor allem 2012 bis 2015) und ein wichtiges Werkzeug der herrschenden Klassen zur Erlangung ihrer Hegemonie war.

Nach der Flucht Ben Ali’s war die erste Etappe der Restauration des durch die Revolte erschütterten Systems die Ernennung eines neuen Gouverneurs der Tunesischen Zentralbank am 16. Jänner 2011. Und das nur zwei Tage nach dem Sturz Ben Ali’s ! Die Wahl fiel auf Mustafa Kamel Nabli, Wunderkind des IWF, dessen Direktor für den Mittleren Osten und Afrika er bis dahin war. Von Anfang an führte er, zusammen mit dem Finanzministerium und mehreren anderen monetären und finanziellen Instanzen, eine Schlacht gegen die Forderungen nach Einstellung der Zahlungen für Auslandsschulden und nach Revision der Verträge mit multinationalen Konzernen. Er hat seine Aufgabe zu Ende geführt, indem die Auflagen des „Konsensus von Washington“, geheiligte Doktrin des IWF, durchgesetzt wurden. Das hat Tunesien in eine noch gröβere Abhängigkeit vom kapitalistischen Weltsystem gebracht - mittels der Gestionierung seiner Schulden von auβen, der Oktroyierung unzähliger neuer Kredite, neuer „Freihandels“ abkommen, mehr Privatisierungen öffentlicher Institutionen und einer ausschlieβlich gegen das Volk gerichteten Austeritätspolitik.

Zugleich beschritten die imperialistischen Kräfte auch andere Wege. Das Wichtigste war der „Prozess des demokratischen Übergangs“ (bei geheimen Treffen in einigen ausländischen Botschaften nach der Flucht Ben Ali’s ausgekungelt) und die Integration der Moslembrüder in die offi zielle politische Szene. Dieses von den USA seit Jahren bevorzugte Szenario fand die einhellige Zustimmung der einflussreichen ausländischen Mächte (insbesondere der europäischen und amerikanischen) und ihrer lokalen Verbündeten. Obwohl sich ein Teil der Bourgeoisie, der vom Ben Ali Regime profitiert hatte, zu Beginn gegen diesen Weg stellte, hat er sich schlieβlich den Weisungen der imperialistischen Hauptstädte gefügt und versucht, neue Allianzen mit der aufstrebenden politischen Kraft zu schmieden : der Ennahdha.

Nach den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung im Oktober 2011 mit dem Ergebnis einer von Ennahdha geführten Parlamentsmehrheit versuchte diese, den Staat und die Gesellschaft unter ihre Herrschaft zu bringen. Wir hatten also eine Periode von Kämpfen auf zwei Ebenen : einerseits zwischen dem nach dem Oktober 2011 errichteten Regime und den von dessen Politik betroffenen Volksmassen ; andererseits zwischen verschiedenen Flügeln dieses Systems : seinen alten Vertretern und den Neuankömmlingen. Diese Dynamik in der Entwicklung der Gesellschaft äuβerte sich in der Organisierung mehrerer Proteste und Erhebungen in marginalisierten Zonen und unter den am meisten getroffenen sozialen Schichten. Die Antwort des Regimes damals war Unterdrückung und Barbarei. Indessen nahm die Geschichte Tunesiens eine bedeutende Wendung mit den politischen Morden von 2013, die nach gewaltigen Aufmärschen und Massenmobilisierungen zum Sturz der (auf die eine oder andere Art für die Morde verantwortlichen) Ennahdha-Regierung führten, wobei die wichtigste davon der Marsch vom 8. Februar 2013 anlässlich des Begräbnisses des Märtyrers Chokri Beläid war.

Diese Ereignisse führten zu einem „Nationalen Dialog“ (unter dem Taktstock der imperialistischen Mächte, vertreten durch die Botschafter der G8) und einem bourgeoisen Konsens über eine neue Verfassung, die die Stabilität des Systems stärkte, mit der aber die Träume der Ennahdha, die politische Szene zu beherrschen, beschränkt wurden. Nach diesem Konsens zwischen den Vertretern des alten und des neuen Regimes führte die Ernennung einer neuen Regierung aus „Technokraten“ das Land in Richtung neuer Wahlen. Und auch in Richtung einer neuen Phase von Vereinbarungen zwischen den herrschenden Klassen und unter den Auspizien des Imperialismus. Dies umso mehr, als die Situation vor dem Sturz der von Ennahdha geführten Regierung („Troika“) neue revolutionäre Explosionen voraussehen lieβ. Die einzige Lösung für die herrschenden Klassen war interne Arrangements zur Rettung des Systems zu erzielen.

Aber trotz aller dieser Konspiration und Mauschelei, die die Protestbewegung schwächten, verweist die allgemeine Situation auf ökonomischer, sozialer und politischer Ebene auf ein Potential für weitere Explosionen und einer Radikalisierung der Kämpfe - wenn es gelingt, ein revolutionäres politisches Projekt auf die Beine zu stellen.

Wie ist heute die wirtschaftliche und politische Situation der Massen ?

Im Lauf der Jahre haben die Klassen, die das Volk bilden (Arbeiter, arme und kleine Bauern, die unteren oder verarmten Teile der Mittelklassen, diplomierte/akademische Arbeitslose etc.), an politischer Erfahrung aus ihren Kämpfen gegen die aufeinanderfolgenden Regierungen gewonnen, insbesondere angesichts der Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation, was zur Zunahme der sozialen Spannungen und radikaler Positionen führt. Aber weil es keine klare revolutionäre politische Alternative gibt, werden populistische Projekte, die sich nicht viel von denen der Parteien an der Macht unterscheiden, immer populärer und dämmen die Verankerung der Kämpfe unter den Massen und ihre Radikalisierung ein.

Die derzeitige wirtschaftliche Situation ist gekennzeichnet durch den unablässigen Anstieg von Armut, Arbeitslosigkeit und Marginalisierung, durch unklare Perspektiven der herrschenden Klassen und ihre Besessenheit, die Diktate des IWF umzusetzen, insbesondere dessen neue Version „struktureller Reformen“, die eine harte Austeritäts und Verschuldungspolitik einschlieβen, lauter Maβnahmen, die das Risiko bergen, die wirtschaftliche Lage weiter zu verschlechtern und das Land in eine noch nicht dagewesene wirtschaftliche und soziale Krise zu führen.

Allerdings hat die Massenbewegung eine sprunghafte quantitative Zunahme erfahren, speziell mit den gewonnenen Schlachten in Kerkennah, Jemna und El-Kamour, wo wir sehr intensive Kämpfe gegen die polizeilichen Repressionskräfte sahen, begleitet von Anfängen einer radikalen Haltung gegen die Herrschaft des Regimes in Fragen Grundeigentum und Verwaltung der natürlichen Ressourcen, besonders des Erdols im Süden. In Jemna kam es zur kollektiven Bewirtschaftung der während der Revolte 2011 beschlagnahmten Ländereien und zur Verteilung der erzielten Erlöse in Form der Finanzierung lokaler Entwicklungsprojekte zum Nutzen des gesamten Ortes. In Kerkennah und El-Kamour haben wir an intensiven Schlachten gegen die Multis teilgenommen, die den Olreichtum plündern und durch die Staatsmacht verteidigt wurden. Trotz der groβen Bedeutung dieser Kämpfe ist weiterhin das, was ihnen am meisten fehlt und was sie hindert, definitive Siege zu erringen, das Fehlen eines revolutionären politischen Stimulus. Wir sahen in manchen Fällen sogar die Ablehnung, die Kämpfe zu „politisieren“, was eine Krise des Vertrauens der Volksmassen in jegliche politische Bewegung ausdrückt, sowohl die an der Macht wie die in der Opposition. Diese Situation treibt das Volk dazu, andere Auswege als die der letzten Jahre zu suchen. Dies erklärt den Niedergang der Popularität der Ennahdha, obwohl sie nach den Umfragen nach wie vor hohe Zustimmung bei den Wahlen erwarten konnen. Aber es wird eine breite Bewegung der Mehrheit der Wahlberechtigten für Wahlenthaltung und Boykott geben, was von einer wirklichen Krise des Modells des „demokratischen Übergangs“ zeugt - vor allem angesichts der Tendenz des alten Regimes, verkorpert durch Nidaa Tounes, den Rest der Errungenschaften der „Intifada des 17. Dezember“ zu liquidieren, vor allem was die Freiheiten betrifft.

Die politische und soziale Situation bestätigt, dass die liberale Option auf wirtschaftlicher und politischer Ebene in einer Sackgasse ist - in einem Land, das angeblich dem Rest der Region ein gelungenes Modell des demokratischen und friedlichen Übergangs liefert. Die repräsentative Demokratie, die aufeinanderfolgenden Wahlen, die Übergangsjustiz konnten kein im Gleichgewicht befindliches und stabiles System herbeiführen. Die Marktwirtschaft und die Direktiven des IWF haben sich als ungeeignet erwiesen, die tunesische Wirtschaft aus der Krise zu führen, einer Krise, die sich verschärft und aus der es keinen anderen Ausweg gibt, als den Aufbau einer revolutionären Alternative, um die Massen zu organisieren und zum Sieg zu führen.

Man hört davon, dass viele junge Tunesier sich der Daesh oder anderen fundamentalistischen Bewegungen angeschlossen haben. Wie steht es damit wirklich ?

Ohne über Zahlen zu streiten, ist es unleugbar, dass viele junge Tunesier sich verschiedenen bewaffneten fundamentalistischen Bewegungen angeschlossen und insbesondere am Krieg in Syrien teilgenommen haben. Und das, unter anderem, dank der wohlwollenden Haltung der Ennahdha, als sie an der Macht war, gegenüber „salafistischen“ Strömungen und wahhabitischen Predigern und bezüglich der Rekrutierungsnetzwerke. Trotz ihrer Absichten und der Umstände haben diese jungen Leute hauptsächlich den imperialistischen Mächten und ihren lokalen Verbündeten und Handlangern als Kanonenfutter gedient. Letzteren, vor allem denen in Libyen und Syrien, ist es gelungen, sich des Potentials an Revolte bei diesen marginalisierten und indoktrinierten jungen Leute zu bemächtigen, um ihren Plan umzusetzen, der auf die weitere Spaltung der Völker der Region auf konfessioneller, sprich „sektenartiger“ Grundlage zielt, und um sich widerspenstiger Kräfte zu entledigen und so ihre Herrschaft zu festigen.

Das Phänomen der terroristischen islamischen Gruppen (Daesh, Ansar al-Charia, Al-Nosra etc.) ist ein spezielles Phänomen, das es verdient, tiefgehend studiert zu werden. Unter den spezifischen Zügen dieses Phanomens kann man aufzählen :

  • Die engen Beziehungen dieser Gruppen (oder der dort eingeschleusten Personen) zu den imperialistischen Mächten, welche sie in ihren Stellvertreterkriegen instrumentalisieren. Das widerspricht nicht der Möglichkeit, dass diese Gruppen unter bestimmten Bedingungen in Widerspruch zu den Imperialisten oder ihren regionalen Verbündeten geraten, wenn sie versuchen, sich besser zu positionieren.
  • Wirtschaftliche Beziehungen mit Schmugglerbanden und mit Finanzierungsnetzwerken aus oder nahe den Petrodollar-Monarchien des Arabisch-Persischen Golfs (und einiger Kriegsherren in Libyen) stellen eine Art sozialen und „moralischen“ Aufstieg für einen Teil der beherrschten Klassen dar, hauptsächlich für verschiedene Schichten des Lumpenproletariats.
  • Sehr gut organisierte Gruppierungen, die auf die Bevölkerung und die reaktionären Staaten zielen - mit militärischen Mitteln, wie auch mit einer sehr ausgeklügelten und wirksamen Propaganda unter populistischer Ausnutzung religiöser Bekenntnisse und der Widersprüche zwischen den Massen und dem System an der Macht.
  • Der „islamistische“ Terrorismus ist eine der wildesten Formen der Attacke des imperialistischen Systems gegen Errungenschaften der Völker.

Es ist daher notwendig, dieser Geiβel wirksamen Widerstand entgegenzusetzen - und dabei die Tiefe des Phänomens zu verstehen und seine Zusammensetzung und seine Entwicklung entsprechend den besonderen Bedingungen des Kampfes in jedem Land zu analysieren. Dieser Kampf muβ auf der Unabhängigkeit des Programms der Arbeiterklasse basieren, denn das System versucht, den Terrorismus zu nützen, um seine Interessen zu schützen und seine Kontrolle über alle Klassen der Gesellschaft zu verstärken.

Ist der Einfluss Frankreichs in Tunesien wahrnehmbar ?

Sicher, der Einfluss oder eher die Hegemonie Frankreichs ist in der Politik der Regime in Tunesien deutlich sichtbar : ökonomisch, kulturell, in den äuβeren Beziehungen etc. Diese Hegemonie ist nicht erst von heute, sie ist die Fortsetzung der direkten Kolonisation. Die franzosische Kolonialmacht hätte seine frühere Kolonie nicht ohne Garantien der neuen tunesischen Machthaber zur Fortsetzung derselben politischen Prinzipien verlassen. Die äuβere Politik des französischen imperialistischen Systems beruht auf der Erhaltung der Einfluβsphären. Diese Zonen erlauben der franzosischen Bourgeoisie, die Plünderung der Ressourcen und Reichtümer der Länder des Südens fortzusetzen (besonders in Afrika). Das bedeutet zuerst die Versorgung des französischen Marktes mit billigen Rohstoffen zu sichern und eine leicht ausbeutbare Arbeitskraft in delokalisierten und oft umweltverseuchenden Industrien an der Hand zu haben. Eine Ausbeutung, die möglich wird dank der Elendslöhne, die in den lokalen Gesetzen zum Arbeitsrecht erlaubt sind. Diese Gesetze (und noch einige andere wie das Gesetz aus 1972 über die ausländischen Gesellschaften in Tunesien), die von der Kompradorenbourgeoisie durchgesetzt wurden, sichern dem franzosischen und europäischen Kapital nicht nur Absatzmärkte für ihre Produktionsüberschüsse, sondern auch ein wahres „Steuerparadies“, das ihnen erlaubt, aus Subventionen und Steuerbefreiungen zu profitieren, um zu moderaten Kosten zu produzieren und kolossale Gewinne einzufahren, ohne Verpflichtung, sie in den lokalen Produktionskreislauf zu reinvestieren.

Eines der frappantesten Beispiele dieser Plünderung ist das von COTUSAL, einer französischen Firma zur Salzgewinnung. Sie profitiert von einem Vertrag aus der Kolonialzeit aus dem Jahr 1949 (Nutzungsrecht um 1 Franc pro Hektar pro Jahr !). Seit der „Unabhängigkeit“ wurde dieser Vertrag drei Mal revidiert, aber ohne jemals diesen Preis zu ändern. Und obwohl dieser Vertrag durch patriotische Kämpfer anlässlich der Diskussion über die Frage der Souveränität über die natürlichen Ressourcen in der Verfassunggebenden Versammlung ans Licht der Öffentlichkeit kam und trotz des medialen Interesses und der Empörung der Bevölkerung wurde nichts geändert. Die Regierung von Mehdi Jemâa, dem sogenannten Premierminister der „technokratischen“ Übergangsregierung und früheren Beschäftigten der franzosischen Firma Total, schob vor, dass es unmöglich sei, an diesem Vertrag vor 2029 zu kratzen. Diese Affäre alleine zeigt, wie tiefgehend und breit die Komplizenschaft eines groβen Teils der Machthaber und der lokalen Bourgeoisie mit den Interessen der imperialistischen Bourgeoisien, insbesondere der französischen ist.

Die französische Einmischung war immer auf verschiedenen Ebenen spürbar. Man kann z.B. an die zu trauriger Berühmtheit gelangte Erklärung der französischen Auβenministerin Michèle Alliot-Marie erinnern, die mitten in der morderischen Unterdrückung der Revolte im Jänner 2011 den Polizeikräften Ben Ali’s das „sicher- heitstechnische Knowhow“ Frankreichs anbot. Diese Einmischung setzte sich nach dem 14. Jänner fort in Gestalt der französischen Botschafter, denen das Regime erlaubt, alles und was auch immer zu tun... So war es mit Boillon 2011 und so ist es genauso mit Poivre d’Arvor, dem derzeitigen Botschafter, den die Tunesier den „neuen Generalgouverneur“ nennen. Er interveniert unablässig in innere Angelegenheiten des Landes, besucht politische Parteien und offentliche Institutionen (darunter Schulen, wo dafür die Unterrichtsstunden unterbrochen werden, was Proteste der Lehrergewerkschaft auslöste) und nimmt sich heraus, über alles seine Ansicht zum Besten zu geben. Eine Haltung, die zeigt, bis zu welchem Grad die tunesischen und arabischen Regime sich mit den imperialistischen Weltmächten kompromittiert haben, die ihnen - im Gegenzug für die Garantie ihrer Herrschaft - ihre Unterstützung zusichern. Gegen diese Vereinigung, die unsere Volker schädigt, gibt es nur einen einzigen moglichen Ausweg : starke Beziehungen schmieden, gemeinsame Aktionen organisieren und eine weltweite Welle der Solidarität unter den Volkern und unter den revolutionären Kräften schaffen. Nur die Einheit der unterdrückten Völker und der Werktätigen ist in der Lage, das Kräfteverhaltnis gegenüber der französischen Bourgeoisie zu ändern. Diese Bourgeoisie, die die französischen und immigrierten Arbeiter ausbeutet und verarmt, ist ein groβer Verbündeter der herrschenden Klassen Tunesiens und der arabischen Lander. Genossen und Freunde, französische oder in Frankreich lebende, erheben wir gemeinsam die Parole : „Werktatige der ganzen Welt und unterdrückte Völker, vereinigt Euch !“ und beginnen wir, unsere Bemühungen zu koordinieren, entwickeln wir den gemeinsamen Widerstand gegen den Imperialismus und seine Lakaien.

Wie ist die Lage und was sind die Perspektiven der OTC ?

Die OTC sucht in dieser Etappe der Geschichte unseres Landes, eine wahrhaft Kommunistische Partei aufzubauen. Diese Aufgabe erwächst einerseits aus der Überzeugung, dass das eine greifbare Vision ist, und andererseits aus der Feststellung, dass das Fehlen einer solchen Partei ein entscheidender Mangel ist, der sich in der Volksrevolte 2011 gezeigt hat. Der Aufbau dieser Partei muβ sich im Feuer der Klassenkämpfe und auf verschiedenen Ebenen abspielen : ideologisch, politisch und auf sonstigen Ebenen. Wir müssen an dieser Bedingung festhalten, um nicht die Irrtümer der früheren marxistischen „Linken“ in Tunesien zu wiederholen, die hauptsächlich eine gewerkschaftliche Linke war. Andererseits, so wie wir die tunesische und generell die arabische Gesellschaft wahrnehmen, schlieβt der Aufbau dieser Partei die Herstellung enger Beziehungen mit den Kommunisten der anderen arabischen Lander ein - und dass mit der Perspektive des Aufbaus revolutionärer Organisationen, die die Kämpfe des arabischen Volks führen, im Bündnis mit den unterdrückten Volkern und Arbeitern der ganzen Welt, für die Befreiung und den Sozialismus.

(traduction publiée dans la revue autrichienne « Proletarische Revolution » N°74, avril 2018
https://prolrevol.files.wordpress.com/2018/04/pr74-download01.pdf

[1Anwalt und Führer des „Parti unifié des patriotes démocrates“ (Vereinigte Partei der Demokratischen Patrioten), Teil des „Front Populaire de Tunisie“ (Volksfront Tunesiens). Er wurde am 6. Februar 2013 ermordet.

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